Methodik und Didaktik Sozialer Arbeit
In Ausführungen zur Methodik und Didaktik müssen unterschiedliche Methoden und zugleich strukturelle Gemeinsamkeiten vorgestellt werden. Wenn man das idealtypische Grundmuster sozialpädagogischer Hilfeprozesse verstanden hat, wird man sich schnell in andere Arbeitsfelder und methodische Ansätze einarbeiten können; je stärker man sich auf einzelne Methoden konzentriert, desto größer wird die Gefahr professioneller Unflexibilität.
Ich möchte daher zunächst an dem sog. 4-Phasen-Modell die Grundstruktur sozialpädagogischer Hilfeprozesse illustrieren, die für alle Methoden -mit mehr oder weniger großen Veränderungen- grundlegend ist. Im Anschluss werden mit Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit und Empowerment verschiedene Methoden der Sozialen Arbeit vorgestellt, ohne dann ihre Grundstruktur wiederholen zu müssen. Man hätte das Modell auch weiter differenzieren und vielleicht 15 statt 4 Phasen benennen können; wenn sich theoretische Modelle jedoch zu sehr differenzieren, verlieren sie aber an analytischer Trennschärfe. Theoretische Modelle sollen von den unzähligen Einzelfällen abstrahieren; d.h. das Wesentlich, das Allgemeine, den Regelfall, den Durchschnitt.herausstellen und die Ausnahmen dabei vernachlässigen. Praktische Arbeit kann eben nur dann sinnhaft vorstrukturiert werden, wenn die Theorie sich grob auf das Wesentliche konzentriert und gerade nicht versucht, jedem Einzellfall durch stärker Differenzierung Rechnung zu tragen.
Die Hilfe der Theorie kann sich in der Praxis aber schnell in ihr Gegenteil verkehren, wenn man sie mit zu wenig Distanz und unflexibel handhabt; sich also ähnlich eng an den theoretischen Schemata hält, wie regelhaft in den Klausuren des Studiums gefordert. Je nach Methode, Problem, Person und Situation muss sich das theoretische Modell -dort wo es nicht passt- flexibel dem Einzelfall anpassen: Einzelnen Phasen können übersprungen, verändert, ausgetauscht oder mehrmals durchlaufen werden...; keinesfalls wird der Einzelfall in ein starres theoretisches Korsett gezwängt! Zur Strukturierung sozialpädagogischer Hilfeprozesse hat sich mit den Phasen Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation das 4-Phasen-Modell etabliert:
Anwendbar auf alle Methoden fangen sozialpädagogische Hilfen mit der Anamnese an:
- Anamnese lässt sich mit Bestandsaufnahme übersetzen, sie steht im Zentrum der Kontaktaufnahme zum Klienten. Zunächst muss geprüft werden, ob die Person mit dem Problem bei uns oder mir an der richtigen Stelle ist und ob sie (allein) überhaupt der richtige Adressat ist oder ob vielleicht andere Personen zusätzlich bzw. alternativ in den Mittelpunkt gestellt werden müssen oder sich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen konzentriert werden soll. Bedenken wir, wie schnell sich erste Eindrücke festsetzen und wir schwer man sich damit tut, sie wieder zu verwerfen, kommen besonders zu Beginn Empathie und Selbstreflexion zum Tragen: Wir müssen uns disziplinieren genau hinzuschauen sowie -hören und dürfen uns selber mit unserer Sicht der Dinge nicht besserwisserisch im Wege stehen, um keine voreiligen falschen Schlüsse zu ziehen. Gerade die nonverbalen Reaktionen, gilt es sensibel zu steuern. Ein unpassendes Grinsen; eine ,falsche' Tonlage oder eine unangemessene Berührung kann schon in den ersten Sekunden Anlass zu Missverständnissen oder Rückzug bieten.
- Wir lassen uns die Probleme schildern (z.B. Schulprobleme bzgl. Leistungen oder Sozialverhalten),
- wir forschen nach individuellen und naheliegenden Ressourcen (kognitive, kulturelle, soziale, sportliche und sprachliche Kompetenzen...),
- wir verschaffen uns ein Bild über beteiligte Akteure (Lehrer, Klassenkameraden, Eltern (und ihre neuen Lebenspartner, Freund, Geschwister, Freunde, Eltern von Freunden, Großeltern...),
- wir erzielen Übereinkommen über eine gemeinsame weitere Zusammenarbeit,
- wir formulieren formale Regeln der Zusammenarbeit (1 X in der Woche treffen, können auch mal woanders hingehen, vielleicht in Zoo, normalerweise allein, vielleicht auch mal mit Mutter oder anderen?...),
- wir klären die Umgangsformen (ehrlich, pünktlich, rechtzeitig absagen, keine körperliche Gewalt, nüchtern sein, Verschwiegenheit...),
- (...)
Leider wird der Anamnese i.d.R. zu wenig Aufmerksamkeit bzw. Zeit gewidmet und Schlüsse werden oft voreilig gezogen, ehe die persönliche (Vertrauen, Sympathie, Offenheit...) und fachliche Arbeitsgrundlage (Vorgeschichte, Lebenswelt der Klienten, unbewusste und unausgesprochene sekundäre Probleme...) hergestellt ist. Wenn Mutter über die Schulleistungen schimpft, das Kind deshalb zum Sozialpädagogen schleppt und dieser sofort Nachhilfe und Sport aufzwingt; kann das Kind nicht erzählen, dass es traurig ist, weil Mami immer so schlecht über Papi redet und es Papi öfter sehen möchte, wegen fehlender Markenklamotten gehänselt wird oder wegen der lauten Nachbarn kaum schlafen kann.Vielleicht muss es den Sozialpädagogen erst einmal länger kennenlernen, selbst wenn dieser glaubt, schon alles verstanden zu haben. Ist der Sozialpädagoge cool, witzig, fetzig? Kann man mit ihm Spaß haben? Wie ist er mit dem ersten kleinen Geheimnis umgegangen, das ich ihm anvertraut habe? Erzählt er Mutti wirklich nichts ohne mich zu fragen? Kann ich ihm nun alles erzählen?...
In Folge von Sozialkürzungen Zeit, haben sich bei den Trägern Sozialer Arbeit Fallzahlen derart erhöht und Förderzeiträume verkürzt, dass die Anamnese oft weniger sorgsam durchgeführt werden kann, als fachlich notwendig wäre. Defizite bei der Erfassung des Sachverhaltes können dann den gesamten Hilfeprozess erschweren, weil in der Diagnose falsche Schlüsse gezogen oder die Weichen für die Intervention falsch gestellt werden. I.d.R. ist nicht fehlende Kompetenz zur Empathie oder Selbstreflexion ursächlich für Störungen des Hilfeprozesses, sondern Zeit- und Preisdruck. In der Diagnose
- werden die Probleme geordnet (Dringlichkeit, Schwierigkeit, Zeitpunkt der Entstehung...),
- werden den geordnete Problemen die relevanten Akteure zugeordnet die bzgl. Verursachung und Lösung wichtig sind,
- werden Arbeitshypothesen zu Verursachungszusammenhängen und Lösungsstrategien entwickelt,
- werden mögliche Ressourcen zur Lösung gesucht, die in der Person und seines sozialen Umfeldes zu suchen sind oder dort leicht entwickelt werden können,
- (...)
Schulprobleme sind wahrscheinlich entstanden, weil die Eltern getrennt sind; sie sind besonders schlimm geworden, weil Papa eine neue Freundin hat und sich seltener um das Kind kümmert. Die Schulleistung ist wahrscheinlich nur ein Symptom, weil keine kognitive Beeinträchtigung zu erkennen ist. Man wird sich also nicht um Nachhilfe kümmern müssen, sondern kann darauf vertrauen, dass die Noten von selbst wieder besser werden, sind die Familienverhältnisse erst geklärt.Die Lehrerin scheint zwar nicht Teil der Ursache zu sein, aber sie vergrößert ggf. das Problem durch isolierende und provozierende Strafen. Diese Strafen sollten sofort gestoppt werden, weil sie das Problem unnötig erschweren; eine Lösung ist so aber sicherlich noch nicht gefunden. Das von der Mutter formulierte Schulproblem ist nicht das Problem des Kindes; es scheint nur Symptomträger einer gestörten Familienbeziehung und damit der falsche Adressat zu sein; man sollte sich wohl auf die Eltern und ihre neuen Lebenspartner konzentrieren.
In Gesprächen mit allen Beteiligten werden die eigenen Überlegungen vorsichtig geprüft. Ggf. erzählt man es den Eltern nicht, wenn man sie als eigentliche Adressaten identifiziert hat, denn sie sind oft glücklich, ihre eigenen Probleme auf Kosten des Kindes zu verdrängen. Wenn die Eltern in den Mittelpunkt der Hilfe gerückt werden, beenden sie schnell den Hilfeprozess und vereiteln somit den Schutz der -unter ihrem Umfeld leidenden- Kinder.Man wird das Verhältnis aller Beteiligten untereinander und gegenüber dem Kind eruieren und versuchen, Veränderungen der kindlichen Lebensumwelt mit den Schulproblemen zeitlich in Einklang zu bringen, um eine Vorstellung über die Ursachen zu gewinnen.
Das Ergebnis der Diagnose wird häufig in Gutachten festgehalten, welche anschließenden Kostenverhandlungen zugrunde liegen. In solchen Gutachten werden auch die Methoden, die Ziele, Wahrscheinlichkeiten diese zu erreichen, die geplanten Schritte und v.a. aber auch die Rolle des Klienten in der Problemkonstellation verdeutlicht. Da hinter solche Gutachten auch immer der Wunsch eines Trägers zu vermuten ist, möglichst viel Geld über möglichst lange Zeit zu bekommen, sollten sie immer mit einer gewissen Vorsicht gelesen werden. Gutachten können eine Eigendynamik entwickeln wenn sie später von Lehrern, Gerichten, Jugendämtern und uns gelesen werden und dort Vorurteile begründen: Ob in einem Gutachten steht ,dass Kind war schon immer schlecht in der Schule und aggressiv' oder ,die sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Beeinträchtigungen durch sein soziales Umfeld wurden von dem Kind in sozialinadäquater Weise kompensiert', kann beim Leser sehr unterschiedliche Assoziationen auslösen. Das Ergebnis der Diagnose stellt zugleich den Leitfaden für die anschließende Intervention dar:
- Das Kind soll alle Personen aufmalen, die eine Rolle spielen könnten für das Schulproblem, Gemeinsam soll geklärt werden, ob denn die Mitschüler oder Lehrer wirklich eine so große Rolle spielen, wie groß die Rolle der Eltern und Lebenspartner ist und für welchen Anteil das Kind selbst Verantwortung übernehmen will. Über Geschichten die man sich über die Eltern darüber erzählen lässt, wie man deren neue Lebenspartner kennen gelernt hat und wird versucht herauszufinden, ob bsp. hier Ursachen zu finden sind. Kann vielleicht die Mutter nicht ertragen, ihren ehemaligen Mann in einer neuen Partnerschaft wieder glücklich zu sehen und befürchtet, an Einfluss auf das Kind zu verlieren? Vielleicht gibt es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen, neuer Beziehung des Vaters, die Reglementierung des Kontaktes, Umklammerungsversuche der Mutter und schulischen Problemen?.Die direkte Interaktion mit dem Kind, dient in solchem Fall der Schadenbegrenzung und ist v.a. Mittel zum Zweck, den Kontakt zu den Eltern auszubauen. Man muss ggf. den Eltern klar machen, dass sie zum Wohle des Kindes, die Besuchsregelung verbindlicher festlegen müssen und nicht mehr von der spontanen Tageslaune abhängig machen dürfen. So schwer es ihnen ggf. auch fällt, sollten sie nicht in Gegenwart des Kindes miteinander streiten oder schlecht über den anderen Elternteil und dessen Lebenspartner reden...
In dem Moment, wo der Sozialpädagoge Gefahr läuft, sich in seine Vision zu verrennen, muss er dies mit der nötigen Distanz zu sich selber reflektieren und stoppen bzw. mittels einer zweiten Diagnose auf Grundlage neuer Informationen seine Interpretation modifizieren.
Wenn alle Beteiligten versichern, dass sie einander nicht mehr im Wege stehen wollen, alle glücklich sind, ggf. auch einen Kindesgeburtstag gemeinsam in freundlicher Atmosphäre durchstanden haben, bewertet man den Hilfeprozess im Rahmen der Evaluation. Das hat man schon immer gemacht, um strategische, sowie fachliche Fehler zu entdecken und aus ihnen zu lernen bzw. den Aufwand bezogen auf die Erfolge zu optimieren. Dies passiert abschließend am Ende des Hilfeprozesses oder ihn begleitend; sinnvollerweise müsste eine Evaluation erst im Anschluss an die Hilfe ansetzen.
Erfolg ist, wenn sich die Eltern auch in 10 Jahren noch verstehen, sie, ihre Lebenspartner und das Kind glücklich sind und alle freundschaftlichen Kontakt pflegen; das Kind Freunde hat, gesund ist, sein Abi schafft und dann Sozialpädagogik studieren will...
Heute wird die Evaluation vermehrt unter Kostengesichtpunkten am Ende des Hilfeprozesses durchgeführt: Erfolgreich ist Soziale Arbeit dann, wenn sie zum Ende der Hilfe wenig Geld gekostet hat; fachliche Bewertungskriterien und besonders die Frage der Nachhaltigkeit der Hilfe werden verdrängt. I.d.Z. wird der Nutzen, des Phasenmodells zur Strukturierung des Hilfeprozesses durch den Nachteil überschattet, die Arbeit in der letzten Phase bewerten zu wollen und zu müssen. Die Festlegung von Anfangs- und Endpunkt im Modell rückt die sozialbiographische Dimension sowie die Bewährungsphase in den Hintergrund. Das Modell müsste also ergänzt werden um die Zeit nach Beendigung der Hilfe, in der sich der Erfolg der Arbeit bewähren muss und die Zeit vor dem Erstkontakt, in der das Problem entstanden ist.
Wenn der Erfolg Sozialer Arbeit darin zu sehen ist, dass im Anschluss Probleme selber bewältigt werden können, ist im Umkehrschluss der Misserfolg darin zu sehen, dass später weitere sozialpädagogische Hilfeprozesse nötig sind. Von , Maßnahmenkarrieren' wird gesprochen, wenn sich zahlreiche erfolglose Hilfeprozesse aneinander reihen; ,Maßnahmenkarrieren' lassen sich grafisch wie folgt darstellen:
Wenn die Verkettung nie unterbrochen wird, ist dies ein Beweis dafür, dass der jeweils vorheriger Hilfeprozess erfolglos war; jeder später folgende Hilfeprozess ist ein Indiz dafür, dass der aktuelle erfolglos ist.Hinter diesem Zusammenhang verbirgt sich ein Grunddilemma Sozialer Arbeit:
- Der Erfolg Sozialer Arbeit zeigt sich entweder vor Beginn 'meines' Hilfeprozesse oder hinterher.
- Wenn sich der Erfolg zeigt, besteht i.d.R. kein Kontakt mehr zwischen Klient und Sozialpädagogen.
- Sozialpädagogen können sich deshalb ihres Erfolges niemals richtig vergewissern.
- Da kein Kontakt besteht, können diese Zeiträume nur von Dritten (Sozialwissenschaft) erfasst werden.
- Die Wahrscheinlichkeit für Frustration ist sehr groß, weil man den Erfolg der Arbeit selber nicht sieht.
- Der Nachweis des Erfolges ist nur sehr schwer zu erbringen.
- Keinesfalls ist der Erfolg in Kosteneinsparungen am Ende der Hilfe zu finden!
- (...)
Die Gleichsetzung des Meß-Zeit-Punktes der Evaluation mit der Beendigung der Hilfe verleitet dazu, Erfolg in Kostenreduzierung zu suchen. Dies ist fachlich gesehen Blödsinn; der Erfolg der Arbeit ist nur in der Zukunft zu finden und zu messen: In einer erfolgreicheren Lebensbewältigung und der Vermeidung neuer Hilfeprozesse. Wegen der Ungleichzeitigkeit von Problemverursachung und Hilfeprozess sollten wir uns bemühen, in unserer Arbeit Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wie die Probleme präventiv verhindert werden könnten zu Zeitpunkten, zu denen wir den Klienten noch gar nicht kennen. Solange Soziale Arbeit die Probleme nicht ursächlich im biographischen Vorfeld löst, sondern allein ihre Folgen behandelt, betreibt sie immer nur Symptombekämpfung. Wenn alle Institutionen darauf hinwirken, dass vorgelagerte ihre Arbeit erfolgreich bewältigen könnten, wäre ein schon großer Schritt getan...
Ich will mich trotz einiger Schwächen an den 4 Phasen orientieren und sie nun in vier Kapiteln bearbeiten:
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